Wenn ich Euch berühre, dann bin ich in meinem Element.
Ihre Stimme zieht uns in ihren Bann, macht Gänsehaut. Ihre Musik begleitet uns an den fröhlichen wie an den weniger guten Tagen, trägt uns, umfängt uns, reißt uns mit oder tröstet. Auf der Bühne ist Kerstin Radtke zu Hause. Und in Erfurt. Unserer (Landeshaupt)Stadt wartet mit begnadeten Künstlern unterschiedlicher Genres auf.
Wie es die stimmgewaltige Erfurterin von lokalen auf nationale und internationale Bühnen schaffte, wollten wir erfahren und hörten ihre Geschichte, die nur scheinbar von Zufällen determiniert ist. Denn – und das sei vorweggenommen – das überragende Talent hat sie mit einem Studium an der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar und mit steter Weiterentwicklung vervollkommnet.
Ihre erste Bühne dürften Flur und Treppenhaus des elterlichen Zuhauses in Daberstedt gewesen sein. Als Kind fand sie die Akustik – den Hall – spannend und sie sang dort aus purer Lust. Zur Freude der Nachbarn und ihrer Eltern. Dennoch erkannte mangels Vergleichsmöglichkeiten zunächst niemand das in ihr schlummernde Talent.
Das änderte sich sofort, als Kerstin Radke im Teeny-Alter ihren ersten Freund hatte. Der spielte in einer Band und bei einer der Proben sang sie dort den Police-Titel „Walking on the Moon“. Praktisch auf der Stelle wurde sie zur Sängerin der Band „Aligator“ erkoren, hatten die Musiker doch sofort Kerstins Potenzial erkannt.
Was dann folgte, war ein Durchlaufen des Procederes, um als Künstler in der DDR auftreten zu dürfen. Die sog. Einstufung, von der auch die Höhe einer zu erzielenden (wenn auch sehr geringen) Gage abhing, wurde von einer staatlichen Kommission vorgenommen, in der Künstler, Kreiskulturfunktionäre und Lehrer von Musikschulen saßen. Eine Spielerlaubnis, die der Einstufung folgte, wurde in fünf Abstufungen erteilt: Grundstufe, Mittelstufe, Oberstufe, Sonderstufe und Sonderstufe mit Konzertberechtigung. Am 12. April 1981, einen Tag vor ihrem 17. Geburtstag, fand diese Einstufung in der Glashalle der damaligen iga (heute ega) statt. Neben vielen anderen spielte die Band „Aligator“ vor und erreichte auf Anhieb die Mittelstufe. Der Gesangslehrerin in der Kommission fiel Kerstins Begabung auf und die hatte fortan wöchentlich eine Stunde Gesangsunterricht. „Ich konnte singen, aus dem Bauch heraus, völlig intuitiv und nach Gehör. Ich konnte keine Noten lesen und kein Instrument spielen.“, sagt Kerstin rückblickend.
In der Musikschule wiederum waren von der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar von Zeit zu Zeit Professoren zu Gast auf der Suche nach besonders talentierten Musikern. Auch hier fiel Kerstins Stimme auf und sie wurde ermutigt, ein Musikstudium in Weimar zu absolvieren. Am Ende der 11. Klasse und damit kurz vor dem Abitur, schwenkte sie also um, meldete sich bei der Technischen Universität Ilmenau ab, wo sie sich als Medizinisch-technische Assistentin ausbilden lassen wollte und in Weimar an, um Musik zu studieren. Hier vertiefte sie das in der Musikschule begonnene Klavierspiel und alle technischen und theoretischen Grundlagen für ein Berufsleben als Sängerin.
Die Auszeichnung „Goldener Rathausmann“ hat sie 1984 erhalten. Mit damals schon bekannten Musikern und Textern hat sie gearbeitet, aber einen wichtigen Karriereschritt ist sie nie gegangen, ganz bewusst: Sie hat Erfurt nicht verlassen, um sich z.B. von Berlin aus die großen Bühnen zu erobern. Stattdessen blieb sie ihrer Band treu, spielte sehr erfolgreich in unterschiedlichen Genres wie z.B. Heavy Metal und machte sich so einen Namen. „In dieser Zeit habe ich enorm viel gelernt. Wenn du durch solche Jahre kommst, ohne dass deine Stimme kaputt geht, hast du beste Voraussetzungen, lange Musik machen zu können.“, sagt sie über die wild-rockige Zeit.
Der Rundfunk der DDR, Jugendradio DT 64, wurde neben der Bühne zu ihrer musikalischen Heimat. Die politische Wende brachte den Karriereknick, fehlende Auftrittsmöglichkeiten hatten eine fast zweijährige Arbeitslosigkeit zur Folge. Die Band hat sich in dieser Zeit aufgelöst. Das Interesse an Ost-Musik sei komplett weg gewesen, resümiert Kerstin.
Späterhin nahm sie wieder Anlauf, dieses Mal in einem Duo – Klavier und Gesang. „Papermoon“, so dessen Name, brachte all das auf die Bühne, was Kerstin besonders begeisterte: Songs von Nat King Cole, Balladen unterschiedlichster Künstler und vieles andere mehr, was sie besonders reizte zu interpretieren.
Gesangsunterricht gibt Kerstin Radtke seit vielen Jahren. Ihre wohl bekannteste Schülerin war die ebenfalls aus Erfurt stammende Yvonne Catterfeld.
Ab 1995 wurde Kerstin Mitglied der Band „Rest of best“ aus Weimar, in der sie heute noch mit ihrer besonderen Stimmfarbe brilliert. Das Quartett suchte zunächst eine Vertretung für die Sängerin Arite Mayhof-Plewe, die ein Kind erwartete. Vertretung für ein Vierteljahr. „Rest of best“ singt a capella, eine anspruchsvolle Aufgabe. „Aus vier Stimmen muss eins werden.“, beschreibt es Kerstin. 1996 schließlich wurde sie festes und unverzichtbares Bandmitglied, und sie hält „Rest of best“ seit nunmehr 28 Jahren die Treue. Bei neun Olympischen Spielen, bei Prinz Alberts 40. Geburtstag, bei Auftritten für das Internationale Olympische Komitee, bei unzähligen anderen Gelegenheiten ging und geht es den Zuhörern wie uns, als sie nach unserem Gespräch in ihrem kleinen Studio den Welthit von Carol King „You’ve got a friend“ interpretiert. Stimmgewaltig, warm, und Gänsehaut verursachend: „Wenn ich Euch berühre, dann bin ich in meinem Element. Ich bin demütig und dankbar, dass mir dieses Talent geschenkt wurde. Immer zum richtigen Zeitpunkt sind Menschen in mein Leben getreten, die mir die Tür geöffnet haben als ich selbst noch nicht den Mut dazu hatte.“ Kerstins Motto seit jeher: „Ich singe – ich bin.“
Als Solo-Künstlerin, als Mitglied der „Holger-Arndt-Connexion“, der „Nerly Big Band“ und als Sängerin von „Everlong“ gelingt es Kerstin Radtke mit Balladen, Jazz und Rock das Publikum zu begeistern.
Autor: B. Köhler Fotos: S. Forberg